Otheries – eine merkwürdige Methode des Videofeedbacks

Eine einfache Methode, mit der Sie bei jeder Präsentation oder Rede viel lernen können, ohne die Folter, sich selbst anschauen zu müssen.

Selfies gibt es nicht erst seit gestern. Mitte der 1980er Jahre saß ich inmitten 14 anderer TeilnehmerInnen eines Rhetorik-Seminars und durfte mir das erste Mal eine Videoaufnahme von mir anschauen. Ich fand meine Stimme gruselig, meine Körpersprache ungelenk und das, was ich sagte, völlig gestelzt. Kurzum: Diese zwölf Minuten waren eine einzige Folter. Ich war so damit beschäftigt, auf all das zu schauen, was mir an mir nicht gefiel, dass das Feedback des Trainers mehr oder wenig wirkungslos an mir vorüberging. Zum Seminar-Abschluss bekamen wir dann eine Videokassette unserer gesammelten Auftritte, die ich mir nie wieder anschaute. Warum auch sollte ich mir das antun?

Verstehen Sie mich richtig: Videofeedback ist ein tolles Werkzeug – aber nicht, wenn man gerade am Beginn seiner „Bühnen-Karriere“ steht und schon allein von dem Gedanken, vor anderen Menschen reden zu müssen, gestresst ist.

Wenn Sie an Ihrer Bühnen-Performance arbeiten wollen, habe ich hier einen Tipp für Sie:

Nehmen Sie während einer Präsentation oder einer Rede anstelle sich selbst das Publikum auf. Klingt merkwürdig, aber irgendwie angenehmer, oder? Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter: Wenn Sie sich die Aufnahme später anschauen, drehen Sie den Ton ab.

 

Wie geht das genau?

  1. Zeichnen Sie bei Ihrer nächsten Präsentation mit Ihrem Smartphone das Publikum auf – nicht sich selbst.
  2. Bevor Sie sich die Aufnahme anschauen:
    Notieren Sie – möglichst zeitnah nach dem Vortrag – auswendig aus dem Kopf:
    – Wie viele Menschen waren im Auditorium?
    – Welche Details zu einigen Zuschauern fallen Ihnen noch ein?
    (Der Kollege links in der ersten Reihe hatte eine rote Krawatte, die Kollegin rechts von ihm lächelte mich oft an.)
    – Welche Gefühle hatten Sie während des Vortrages?
    (Bei der Folie 23 bemerkte ich einen Tippfehler – das war mir peinlich. Der kritische Blick vom Chef bei meiner These über den Teamgeist hat mich verunsichert.)
  3. Warten Sie ein oder zwei Tage. Dann schauen Sie sich das Video ohne Ton an.
    – Wie reagiert das Publikum?
    – Inwieweit passt das, was Sie auf dem Video sehen, zu dem, was Sie während des Vortrags erlebt haben? (laut Ihren Notizen)
    Achten Sie besonders auf Momente in Ihrem Vortrag, in denen Sie dachten, dass bestimmte Zuhörer negativ über Sie dachten.
    Denken Sie über die Details des Publikums nach, die Sie notiert haben. Entsprechen diese Wahrnehmungen den Zuhörerreaktionen, die Sie auf dem Video sehen? Oder war das eher „Kopfkino“?
    Falls Ihre Notizen mit dem übereinstimmen, was Sie nun als Zuschauerreaktionen auf dem Video sehen: Dann sind Sie bereit, sich den Film auch mit eingeschaltetem Ton anzuschauen. Und wenn das gut funktioniert, dann sind Sie bereit, das nächste Mal, auch sich selbst aufzunehmen.

 

Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass es massive Unterschiede zwischen dem gibt, was Sie aufgeschrieben haben, und dem, was Sie auf dem Video sehen.

Und diese Möglichkeit ist sehr wahrscheinlich – besonders dann, wenn Sie nur selten Präsentationen oder Vorträge halten und sich dabei etwas über Gebühr gestresst fühlen.

Vielleicht denken Sie beim Abgleich zwischen Notizen und Video:

  • Ich weiß gar nicht, warum ich so nervös war, denn die schauen doch allesamt mehr als wohlwollend und viele nicken sogar zustimmend.
  • Warum war mir der Tippfehler auf Folie 23 so peinlich – an den Reaktionen kann ich deutlich sehen, dass dies keinen gestört hat.
  • Ich verstehe gar nicht, warum mich der Blick vom Chef so verunsichert hat. Auf dem Video sehe ich, dass er da gerade auf sein Smartphone schaute und höchstwahrscheinlich hatte sein Gesichtsausdruck gar nichts mit mir zu tun.
  • Kurzum: Höchstwahrscheinlich hat das, was Sie während Ihres Vortrags erlebt haben, nicht viel mit dem zu tun, was Sie auf dem Video sehen.
    Vielleicht haben Sie während des Vortrags Ihr Publikum als unfreundlich, kritisch oder gelangweilt wahrgenommen. Wenn Sie dann das Video ansehen, war das, was Sie gesehen haben, wohl eher normal, wenn nicht sogar interessiert, aufmerksam oder wohlwollend.

 

Warum also sollten Sie das Publikum filmen und nicht sich selbst?

In Stresssituationen neigen wir dazu, uns zu sehr auf uns selbst zu konzentrieren – insbesondere auf unseren physiologischen und emotionalen Zustand (Herzfrequenz, schwitzende Hände). Dadurch entsteht noch mehr Stress und Angst – ein Teufelskreislauf entsteht.

Ein zweiter Aspekt ist, dass wir dann die Welt durch die Filter unseres emotionalen Zustandes sehen. Und wenn wir uns unsicher fühlen, nehmen wir alle Signale des Publikums durch diesen Filter wahr. Vielleicht denken Sie, dass diese Person Sie auslacht, dabei schmunzelt sie nur noch über die Anektote, die Sie vor zwei Minuten erzählt haben. Oder dass dieser Zuhörer gelangweilt ist – und natürlich können Sie nicht wissen, dass er gestern Abend erst aus Sidney kam und noch am Jetlag litt.

Wenn Sie das erste Mal tatsächlich erlebt haben, wie groß der Unterschied zwischen Ihrer Wahrnehmung während der Präsentation und dem Anschauen des Videos danach ist, können Sie beginnen, gegenzusteuern.

Menschen haben keine Angst vor dem Reden – sie haben Angst davor, wie das Publikum sie wahrnimmt. Diese Angst wird durch den Fokus auf sich selbst, die eigenen Emotionen und die eigene Physiologie noch verstärkt.

Indem Sie die Kamera herumdrehen und Ihr Publikum filmen, ändern Sie den Fokus. Anstatt die Idee zu verstärken, übermäßig kritisch zu sich selbst zu sein und diese schlechten Gefühle durch Videoaufnahmen von sich selbst auch noch zu bestätigen, richten Sie den Fokus nun darauf, das Publikum ohne emotionale Filter zu sehen.