Verstehen ist die Ausnahme – Missverstehen die Regel

Warum es keine Garantie gibt, dass wir andere wirklich verstehen.

Im Prinzip ist Kommunikation ist ja schnell erklärt:

Auf der einen Seite gibt es den „Sender“. Er „verpackt“ seine Botschaft in kommunikative Signale (Sprache, Schriftzeichen oder auch Körpersprache) und „schickt“ sie zum „Empfänger“, der diese Signale aufnimmt und „decodiert“. Basta!
Und: Die Kommunikation war dann erfolgreich, wenn die vom Empfänger decodierte Nachricht mit der Nachricht, die der Sender codiert hat, identisch ist. Oder auf gut deutsch: Wenn der Empfänger verstanden hat, was der Sender meinte.

Natürlich kann es bei dieser Informationsübertragung einige „Störfälle“ geben:

Störfall 1: Undeutliche Signale
Der Sender hat undeutlich gesprochen, es war zu laut im Raum oder der Empfänger hat nicht „gescheit“ zugehört.  Das ist keine große Sache, da man dies bewusst bemerkt und das „Kommunikationsproblem“ durch ein Wiederholen oder Nachfragen schnell aus der Welt schaffen kann.

Störfall 2: Unbekannte Signale
„Können Sie mir einen Plögel leihen. Mir ist meiner leider entkolbt.“

Mit diesem Kommunikationsangebot hätten Sie wohl schon eher Probleme.
Verstehen setzt voraus, dass Sender und Empfänger über denselben Zeichen-Vorrat verfügen. Und das Nomen „Plögel“ und das Verb „kolben“ gehören wohl eher nicht zu Ihrem „Zeichen-Vorrat“, da ich diese beiden Worte gerade erfunden habe.

Sprache lebt. So wie neue Wörter „geboren“ werden, sich verbreiten und irgendwann allgemein bekannt sind, „sterben“ und verschwinden andere Wörter aus unserem Sprachgebrauch.
Versuchen Sie einmal sich mit einem 15-Jährigen über „Liebestöter“, „Kolonialwaren“ oder „Bandsalat“ zu unterhalten. Dann können Sie sich vorstellen, was meine.
(Wenn Sie Lust haben, einmal in Archaismen (=Wörter, die es in früheren Zeiten einmal gab) zu stöbern, hier ein Link

Aber auch dieser Störfall ist leicht aus der Welt zu schaffen: Man fragt einfach nach.

Störfall 3: Vieldeutige Signale
„Ich liebe Dich.“

Wieso ist das ein Störfall, fragen Sie. Das ist doch sonnenklar, meinen Sie.
Und genau d-a-s ist das Problem. Oben habe ich ja schon beschrieben, dass die Voraussetzung für gelungene Kommunikation ist, dass Sender und Empfänger einen „gemeinsamen Zeichen-Vorrat“ besitzen. Und das heißt eben nicht nur, dass die beiden nur Worte benutzen, die der andere auch kennt, sondern dass Sender und Empfänger einem Wort auch die gleiche Bedeutung geben. Das ist bei einem Satz wie „Bitte reiche mir das Mineralwasser.“ noch relativ harmlos. Da gibt es relativ wenig Deutungsspielraum. Bei „Ich liebe Dich!“ wird es da schon spannender.
In den meisten Fällen sprachlicher Kommunikation verwenden wir Wörter, die keine zuvor vereinbarte feste Bedeutung haben und auch nicht haben können. Stellen Sie sich bitte nur einmal vor, wir müssten vor jedem Gespräch mit unserem Kommunikationspartner erst einmal definieren, welche Worte wir benutzen werden und welche Bedeutung diese Worte haben sollen. Das würde schon deshalb nicht funktionieren, weil wir dazu ja auch wieder Worte benutzen müssten, die wir zuvor wieder definieren müssten und so fort. Im Computer-Jargon nennte man dieses Henne-Ei-Phänomen das „Bootstrap-Problem„.

Darunter fallen übrigens alle Wörter, die mit unseren Emotionen zusammenhängen. Es ist schlichtweg unmöglich, genau zu definieren, was es für eine Person bedeutet bzw. was sie wirklich damit meint, wenn sie sagt: „Ich bin sehr enttäuscht.“ Oder eben auch „“Ich liebe Dich.“

Solche Worte haben einen riesigen „semantischen Hof“, d.h. sie können sehr unterschiedliche Bedeutungen haben, abhängig von der Situation und vor allen Dingen von dem Menschen und seinem ganz persönlichen mentalen Modell.

Das eigentliche Kernproblem bei diesem dritten Störfall – im Gegensatz zu ersten beiden Fällen ist – dass der Empfänger diese gar nicht bewusst als Störung wahrnimmt.
Er hört ein solches Wort „Liebe, Enttäuschung etc.“, es ist ihm bekannt und er gibt ihm eine Bedeutung. Was ihm allerdings nicht bewusst ist, dass dies s-e-i-n-e Bedeutung ist und die nicht zwangsläufig die Bedeutung des Senders sein muss.

Der Neurobiologie und Philosoph Gerald Roth schreibt dazu:

Die Bedeutung von Wörtern und Sätzen ergibt sich daraus, dass die akustischen […] und grammatikalisch-syntaktischen Laut-und Sprachmuster mit allen in unserem semantischen Sprachgedächtnis enthaltenen Bedeutungen verglichen werden, die bei dem vorliegenden Muster zutreffen könnten und es wird diejenige Bedeutung aktiviert, die dem Muster am nächsten kommt.“

Oder wie es der österreichische Psychiater und Begründer der Logotherapie, Victor Frankl, ausdrückte:

„Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion.“

 

Schlussfolgerungen:

  1. Wir können zwar Informationen kommunizieren, die Bedeutung dieser Information kann jedoch nicht (mit-)kommuniziert werden. Bedeutungen werden in jedem (Empfänger-) Gehirn auf der Grundlage sozialer und persönlicher Vorerfahrungen erzeugt.
  2. Kommunikation ist also kein Austausch von Informationen, sondern eine Anregung zu wechselseitiger Konstruktion von Bedeutungen.
  3. Wir – als Sender – können damit auch keine bestimmte – von uns gewollte – Bedeutungskonstruktion beim Zuhörer erzwingen.
  4. Wenn „Verstehen“ bedeutet, dass Sender und Empfänger identische Bedeutungen teilen, dann ist Verstehen dann wohl eher die Ausnahme und Missverstehen der Normalfall – nur merken wir meist nichts davon.

Wenn wir über dieses Thema in meinem NLP-Ausbildungen sprechen, spüre ich seitens mancher Teilnehmer recht heftige Frustrationsreaktionen:

  • Dann weiß ich ja nie, ob mich mein Mitarbeiter, meine Kinder, mein Partner wirklich verstanden hat.
  • Wenn wirkliches Verstehen eher die Ausnahme ist, wie schaffen wir Menschen es dann überhaupt zusammen zu arbeiten, Projekte zu realisieren und gemeinsam Ziele zu erreichen?
  • Wenn das so ist, wie kann ich dann überhaupt etwas dafür tun, dass ich Menschen besser verstehe und Menschen mich besser verstehen?

Gute Fragen, wie ich meine.

Meine Antwort darauf lautet: Wir werden zwar nie eine Garantie haben, dass ich den anderen so verstehe, wie er es gemeint hat (um umgekehrt), aber wir können sehr wohl die Wahrscheinlichkeit des gegenseitigen Verstehens erhöhen und zwar dadurch:

  1. Dass wir uns immer wieder vor Augen halten, dass wir nur Kommunikationsangebote machen können, aber weder eine Garantie haben, was der andere an Bedeutung daraus macht, noch eine Kontrolle darüber haben.
  2. Dass es eine ganze Reihe von recht nützlichen Vorannahmen gibt, die uns dabei unterstützen können, wie z.B.
    1. Wenn das, was ich tue, gerade nicht funktioniert, liegt das nicht (zwangsläufig) an der Renitenz meines Kommunikationspartners, sondern ist zunächst einmal ein Hinweis dazu, etwas Anderes zu tun.“
    2. Auch wenn sich der andere etwas unglücklich ausdrückt oder gerade nicht den richtigen Ton fand, unterstelle ihm eine positive Absicht.“
    3. Menschen verhalten sich zwar nicht immer rational und auf der Grundlage nachvollziehbarer Fakten, aber immer konform zu ihrem persönlichen mentalen Modell. (Peter Senge)
  3. Dass es vor diesem Hintergrund recht nützlich scheint, das mentale Modell meines Gesprächspartners zu erkunden und dieses als prinzipiell gleich-wertig zu meinem eigenen Modell anzusehen – bevor ich ihm relevante Kommunikations-Angebote unterbreite. Denn je besser ich seinen Bedeutungshintergrund verstehe (seine Werte, und seine Überzeugungen) desto passgenauer kann ich meine Angebote formulieren.

Warnung:  Bitte verstehen Sie diesen Artikel nicht als Appell, nun zum Beispiel mit Ihrem Lebenspartner sämtliche Erfüllungskriterien der Werte durchzudiskutieren, die Ihnen in Ihrer Beziehung wichtig sind. Aus eigener Erfahrung kann man recht gut 30 Jahre glücklich in einer Partnerschaft zusammenleben, ohne wirklich genau zu wissen, was z.B. „Liebe“ für den anderen im Detail bedeutet.

Quellennachweis: 

Gerhard Roth: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten: Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern

Peter Senge: Das Fieldbook zur Fünften Disziplin