Die Bedeutungsleiter oder warum sich Menschen manchmal so merkwürdig verhalten

Wir Menschen sind schon seltsame Wesen. Da hat uns der liebe Gott (oder die Evolution;-) zwei Augen und zwei Ohren zum Wahrnehmen gegeben. Und dennoch spinnen wir lustig unsere persönlichen Wirklichkeiten. Und kaum haben unsere Kopfgeburten das Licht der Welt entdeckt sind wir vollends überzeugt, dass die Welt genau so ist, wie wir sie sehen.

In den letzten Wochen hatte ich viel Zeit und noch mehr Spaß dabei, derartiges (auch) bei mir selbst zu entdecken. Dieser Artikel dreht sich darum, wie elegant wir in einer Situation Bedeutungen generieren, Schlussfolgerungen ziehen, uns dann dementsprechend verhalten – und manchmal völlig daneben liegen.

Szene 1:

Peter-Leiter1

Eine wichtige Präsentation beim Kunden steht an. Dieses Mal ist nicht nur der Einkaufsleiter, sondern auch der Chef selbst dabei. Warum nur? Der war doch bisher nie dabei. Egal – jetzt ist keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen.
Ich fange einfach mal an, und eigentlich läuft es prima. Der Einkaufsleiter beginnt zustimmend zu nicken. Klasse! Ich fühle mich bestätigt und  laufe zur Höchstform auf … bis irgend etwas meine Aufmerksamkeit auf den Geschäftsführer lenkt. Er sitzt reglos mit verschränkten Armen da und schaut immer wieder auf seine Uhr .
Und schon beginnt das eigene Gehirnkino: Was bedeutet das? Ist er gelangweilt? Oder passt ihm etwas an der Präsentation nicht?
Habe ich es nicht schon vorher gewusst! Die Lösung passt einfach nicht auf diesen Kunden. Ich werde unsicherer, beginne schneller zu sprechen, Folien zu überspringen und zum Ende zu kommen. Puhhh, das war wohl nichts.

Szene 2:

Sonntag morgen. Die Kinder sind weg. Meine Frau und ich sitzen am Frühstückstisch und scheinen alle Zeit der Welt zu haben, um gemütlich über Gott und die Welt zu plaudern. Irgendwie komme ich auf eines „meiner“ Themen: Motorradfahren und  die Idee, mir dieses Jahr doch vielleicht  dieses wundervolle Bike zu kaufen, für das mein Herz schon seit Jahren  schlägt. Ich erzähle und erzähle und merke plötzlich, wie meine Frau  unruhig zu werden scheint, ganz langsam beginnt den Tisch abzuräumen und en passant bemerkt, dass der Hund noch Gassi gehen müsste.

Mein Gehirnkino: Ist ja klar. Kaum geht es mal um ein Thema, das MICH begeistert, schaltet sie ab. Wahrscheinlich weil sie denkt, das Geld wäre besser in einer neuen Couch angelegt. Na der Sonntag fängt ja gut an.

Natürlich sind beide Beispiele völlig fiktiv und nur meiner Fantasie entsprungen. Und doch kennt jeder von uns dieses Muster, das binnen weniger Minuten dafür sorgen kann, ein gutes Gespräch an die Wand zu fahren.

Sie möchten lieber hören, statts lesen? Gerne! Hier der Podcast zum Thema „Die Bedeutungsleiter“:

Was steckt dahinter?

Im Prinzip sind wir einfach zu schnell – zu schnell im Denken, zu schnell im Schlussfolgern. Peter Senge hat das in seinem Klassiker „Die 5. Disziplin“ trefflich Peter-Leiter1beschrieben mit dem Modell der Bedeutungsleiter (auch: Abstraktionsleiter)

Die 1. Sprosse der Leiter steht symbolisch für alle objektiv vorhandenen Informationen, die in einer Situation vorhanden sind. Also zum Beispiel in der obigen Situation „Kundenpräsentation“: die Anzahl der Personen im Raum, die Farbe der Wände etc. Also alles, was auch eine Videokamera aufzeichnen könnte. Da die Kanalbreite unserer Wahrnehmung jedoch begrenzt ist, können wir nicht all diese Informationen aufnehmen. Wir müssen filtern und aussortieren.

Dafür steht die 2. Sprosse der Bedeutungsleiter: Über eine Vielzahl von individuellen Filtern, wie Interessen, Werten, Ängste usw. filtern wir aus den „Rohdaten“ jene heraus, die für uns zu diesem Zeitpunkt relevant zu sein scheinen. In meinem Beispiel oben waren das z.B. die verschränkten Arme des Geschäftsführers und sein Blick auf die Uhr.

Um letztlich handlungsfähig zu sein, müssen wir den nun ausgewählten Informationen eine Bedeutung geben. Dafür steht die 3. Sprosse der Leiter. Der Präsentator in meinem Beispiel hat auf die Information „verschränkte Arme des Kunden“ die Bedeutung „gelangweilt“ geklebt. Nun kann man sich fragen: Warum ausgerechnet „gelangweilt“? Könnten verschränkte Arme nicht auch bedeuten, dass der Geschäftsführer sich wohl fühlt oder vielleicht auch, dass er die Schweissflecken auf seinem Hemd damit kaschieren will?

Kaum hat man ein für sich plausibles „Bedeutungsetikett“ gefunden, schlussfolgert man auf der 4. Stufe z.B. „Diese Lösung passt einfach nicht auf diesen Kunden“

Und sobald sich diese Schlussfolgerung im eigenen Gehirn festgesetzt hat, beginnt sie das eigene Verhalten zu steuern (schneller Sprechen, Folien überspringen usw.), wofür die 5. und letzte Sprosse der Bedeutungsleiter steht – das eigene Verhalten.

Unbewusst, blitzschnell und nur im eigenen Kopf

Was ich hier so ausführlich beschreibe, dauert in Echtzeit ein paar Sekunden. Flink wie Schimpansen klettern wir täglich auf eine Vielzahl von Bedeutungsleitern – wählen aus der Vielzahl von Fakten einige aus, legen unsere subjektiven Bedeutungen darauf, schlussfolgern und verhalten uns dementsprechend. Blitzschnell –  so schnell, dass uns dieser Vorgang gar nicht bewusst wird.  Außerdem befinden sich die meisten dieser Leitersprossen ausschliesslich im eigenen Kopf. Die einzigen Teile, die für alle sichtbar sind, sind die objektiv wahrnehmbaren Fakten auf der 1. Leitersprosse und dann das konkrete Verhalten auf der letzten Sprosse. Alle anderen Prozessstufen bleiben unsichtbar, werden nicht hinterfragt.

Rick Ross:

Wir leben in einer Welt von sich selbst fortpflanzenden Überzeugungen, die grösstenteils umüberprüft bleiben. Wir halten an diesen Überzeugungen gest, weil sie auf Schlussfolgerungen basieren, die wir aus unseren Beobachtungen und früheren Erfahrungen ableiten. Unsere Fähigkeit, die Resultate zu erzielen, die wir wirklich wollen, wird untergraben, weil wir glauben:

  • dass es sich bei unseren Überzeugungen um die Wahrheit handelt.
  • dass diese Wahrheit offensichtlich ist.
  • dass unsere Überzeugungen auf objektiven Daten basieren.
  • dass die Daten, die wir auswählen, die objektiv relevanten Daten sind.

Die praktische Anwendung der Bedeutungsleiter

Ist dieser Prozess nun gut oder eher schlecht?
Weder noch – Es ist  ein Modell darüber warum Menschen sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Wir können nicht anders. Wahrnehmen ohne zu Filtern, Fakten ohne Bedeutungen, Handeln, ohne vorher zu einem Schluss gekommen zu sein – ist schlicht nicht möglich.

Aber es ist möglich, unsere Kommunikation zu verbessern, indem wir …

  1. uns unser eigenes Denken und Schlussfolgern bewusster machen (Reflektieren)
    d.h. ab und zu mal inne halten und sich fragen, wie man nun gerade auf diese Bedeutung oder diese Schlussfolgerung gekommen ist.
  2. unser Denken und Schlussfolgern für andere transparenter machen.
    d.h. anderen Menschen erläutern, wie man zu dieser Bedeutung oder zu jener Schlussfolgerung gekommen ist.
  3. das Denken und Schlussfolgern anderer Menschen erkunden.
    d.h. andere Menschen zu fragen, wie sie zu ihren Folgerungen gekommen sind.

 

Quelle:

Peter M. Senge: Die fünfte Disziplin: Kunst und Praxis der lernenden Organisation